Nachdem ich darauf hingewiesen wurde, habe ich mir den Vortrag von M. Lochmann bei der ITK 2018 auf YT angehört. Hier ist das Video:
Ich denke, als Kinder-Trainer sollte man das zur Kenntnis nehmen.
Als TE bin ich dann wohl auch in der Pflicht, wenigstens kurz die Gedanken aus dem Vid zusammenzufassen.
Kerngedanke ist, dass der Spielbetrieb im Kifu grundsätzlich verändert werden muss. Lochmann ist ja Mediziner und er diagnostiziert beim derzeitigen 7er-Spielbetrieb schwerwiegende Missstände, z.B.:
- Kinder werden ausgeschlossen durch Nichtnominierungseffekte (zu viele oder zu wenige Kinder für 7:7)
- die Mehrzahl der Ballkontakte konzentriert sich auf wenige Kinder
- Ausschluss der Kinder durch Positionsfixierung
- 80% Spieleröffnung durch von außen moderierten Abschlag
- Spiel ist zu komplex für Kinderverhältnisse
- 50% der Spiele im 7:7 gehen mit mehr als 4 Toren Unterschied aus (Motivation wird zerstört, Überheblichkeit und Loser-Mentalität werden "gezüchtet")
- RAE (körperlich schwächere Kinder werden benachteiligt)
Lochmann plädiert angesichts dieser Missstände für kleinere Tore, kleinere Spielfelder, weniger Spieler. Der Fußball wäre so den Kindern angemessener. Es würde eine größere Differenzierung möglich. Mehr Kinder können mehr Ballkontakte haben. Der Dropout verringert sich, die Selektionsbasis vergrößert sich.
Ein veränderter Spielbetrieb würde auch den Trainingsbetrieb verändern. Hohe Schüsse oder weite Abschläge zu trainieren wäre etwa kein Thema mehr.
Lochmann wirbt für Funino. Dies wäre optimal für die Ausbildung von Kindern. Zwei Tore ermöglichen Entscheidungsverhalten, drei Spieler asymmetrische Spielsituationen, die Torschusslinie schließt Distanzschüsse aus und provoziert Dribbeln.
Ich denke, das sind so die wesentlichen Punkte. Im Vortrag wird das natürlich sehr viel ausführlicher dargelegt, mit Zahlen und Fakten untermauert und mit rhetorischem Verve vorgetragen.
Hört sich gut an. Ich muss aber zugeben, dass ich Lochmanns Schlussfolgerungen bei fortschreitendem Nachdenken für immer falscher halte. An dieser Stelle wird es möglicherweise schwierig, nicht missverstanden zu werden. Denn natürlich ist es gut, wenn alle Kinder spielen, wenn sie viele Ballkontakte haben, ich finde auch Funino toll, und kleine Spielformen, ich freue mich, wenn die Kinder dribbeln, wenn sie motiviert sind, sich etwas trauen. Natürlich sehe ich Brüll-Trainer kritisch, möchte dass alle Kinder spielen können, niemand ausgeschlossen wird etc. pp.
Um sozusagen im medizinischen Paradigma zu bleiben, muss man Symptome, Diagnose und Therapie unterscheiden. Symptome gehe ich mit dem Vid voll konform. Diagnose und Therapie nicht oder nur teilweise.
Zur Diagnose:
Lochmann bezieht sich bei einer fußballerischen Handlung auf das 4-Phasen-Modell: 1. Wahrnehmung, 2. Verstehen, 3. Entscheiden, 4. Ausführen. M.W. hat er das von H. Wein, der sich seinerseits wiederum auf Modelle aus dem Bereich der Pädagogik bezieht. Der Fokus in der derzeitigen Ausbildung richte sich zu sehr auf die Phase der Ausführung. Das ist der Bereich der technischen Ausbildung. Da aber die übrigen Phasen in der Trainingsarbeit zu kurz kämen, würden die Spieler zu oft falsche Entscheidungen treffen.
M.E. ist diese Diagnose so nicht richtig. Denn warum sind Spieler wie Messi oder Ronaldo so gut? Nicht weil sie immer die richtigen Entscheidungen treffen, sondern weil sie immer in der Lage sind, ihre Gegenspieler zu überraschen. Ich zitiere mal den Barca-Clubpräsidenten: "Messi gibt uns immer mehr zurück. Seine Leistung ist etwas Spezielles. Er erfindet sein Spiel jeden Tag neu und verändert etwas".
Quelle: https://www.ran.de/fussball/sp…-messi-verlaengern-116266
Das Bild ist nicht das des Machers und des Entscheiders, sondern das des kreativen Künstlers und Erfinders.
Die Diagnose ist also nicht, dass schlechte oder falsche Entscheidungen getroffen werden, sondern dass Freiräume nicht genutzt werden und damit die Spieler zu wenig in der Lage sind, Überraschungsmomente zu generieren. Genau solche Überraschungsmomente braucht es im Offensivspiel, damit eine Mannschaft zu Torchancen kommen kann. Wenn eine verteidigende Mannschaft immer in der Lage ist, das Stürmerverhalten zu antizipieren, wird die angreifende Mannschaft höchstens durch den Zufall mal zu Torchancen kommen.
Zur Therapie:
Warum ist der Fußball in Deutschland so unkreativ? Weil zu wenig Funino gespielt wird? Weil zu viele Spieler auf zu großem Feld mit zu großen Toren spielen?
M.W. ist der Spielbetrieb in Spanien so organisiert wie bei uns, als 6+1. Wenn man sich YT-Vids anschaut, ist die Ähnlichkeit zum Erwachsenenfußball sogar noch größer. In der Ausbildung wird zum einen bemerkt, dass in Spanien mit den Spielern mehr im individuellen Bereich an ihren Schwächen gearbeitet wird; da geht es auch um die Technik (also Ausführung). Außerdem wird bemerkt, dass die Spieler zwar oft körperlich nicht so kräftig wären, dafür aber mehr spielerische Lösungen fänden.
Christoph Metzelder, der ja sowohl den deutschen wie auch den spanischen Fußball sehr gut kennt, hat gefordert, dass es bei uns mehr extrovertierte Egoisten bräuchte und dabei bemerkt, dass wir derzeit dagegen Widerstände hätten. Er hat gesagt, dass uns diese kreativen Spieler fehlen, weil wir sie eigentlich gar nicht wollten.
M.E. trifft es das sehr gut. In Deutschland wird Fußball als "Arbeit" verstanden. Wir wollen "Malocher" sehen, die sich reinhängen. Es ist sogar in D zu lesen, dass Fußball ein "Kampfsport" sei. Beim DFB spricht man von den "deutschen Tugenden 2.0". Auch hier im TT ist immer wieder zu lesen, dass der Fokus v.a. aufs 1gegen1 gelegt werden soll und ich lese da (oft zu Unrecht!!) die physische Komponente hinein, während große Spieler doch aufgrund ihrer überlegenen Technik und Kreativität in der Lage sind, den "Zweikämpfen" gerade aus dem Weg zu gehen. Schon allein dieses Wort "Zweikampf" ist doch sehr missverständlich und unglücklich.
Fußball ist ein Spiel.
Ich habe im Frustabbau-Thread geschrieben, dass mir bei Lochmanns Lösungsansatz das spezifisch Fußballerische fehlt. Wenn man auf Anfang der 2000er zurückblickt, dann waren die Dinge, die damals den Fußball in Deutschland wirklich weitergebracht haben, ja nicht die NLZs und Stützpunkte, sondern die Neuerungen in der technischen und taktischen Ausbildung. Heute spricht niemand mehr (wie damals noch!) vom "deutschen Rumpelfußball".
Auch jetzt kann es doch nicht darum gehen, am Spielbetrieb herumzudoktern. Stattdessen müssen wir uns den Fußball anschauen, der in Deutschland gespielt wird, egal ob dieser Fußball auf große oder kleine Tore, als 4+1 oder 6+1 etc. gespielt wird.
Ein wesentliches Element des Spiels ist es, dass es Regeln gibt, innerhalb derer die Spieler selber kreative Lösungen finden dürfen. Die Regeln sind also die Bedingung für einen Freiraum, in dem die Spieler ihre Spielweise frei entfalten können.
Die Betonklötze im deutschen Fußball, die diesen Freiraum zustellen, sind für mich:
1) Ergebnis- und (damit ja unmittelbar zusammenhängend) Selektionsdruck
2) Fokus auf Arbeit und Kampf statt auf Kunst und Spiel
Beides hängt für mich miteinander zusammen. Es ist ein bisschen wie "die Geister, die ich rief". Die flächendeckenden NLZ haben den Druck unwahrscheinlich erhöht. Mamas und Papas drehen durch. Positionsfixierung, Nichtberücksichtigung der Schwächeren, Fokus auf Hoch- und Weitschüsse hängt doch alles an diesem unwahrscheinlichen Leistungsdruck. Leistungs- und Ergebnisdruck führen unmittelbar zu Selektionsdruck.
Jetzt präsentiert Lochmann als Lösung eine stärkere Differenzierung und noch kleinere Teams, wo noch weniger Kinder mitspielen können? – Nota bene: hier geht es um den Spielbetrieb! Gegen Funino-Festivals und kleine Spielformen als Ergänzung zum regulären Spielbetrieb habe ich überhaupt nichts! –
Aber im Spielbetrieb ist das doch unlogisch. Denn stärkere Differenzierung führt zwangsläufig zu stärkerem Selektionsdruck. Der Leistungsdruck im Spielbetrieb wird so also noch mehr zunehmen, die kreativen Freiräume für die Kinder werden noch mehr eingeengt. Das kann es doch nicht sein.
Meiner Meinung nach wäre genau das Gegenteil angebracht, nämlich statt stärkerer Differenzierung mehr Inklusion. Sprich: Orientierung bei der Mannschaftszusammenstellung an Jahrgängen statt an Leistung, keine Leistungsselektion im G- und F-Bereich, Situationen der Unter- und Überforderung als Lernräume entdecken, noch konsequentere Fairplay-Liga, also Spiele ohne Ergebnis-Relevanz. Also auch keine ergebnisorientierten Belohnungssysteme (wie es sie ja immer noch zuhauf gibt). Usw.