Wir hatten in diesem Forum ja schon einige Diskussionen über Prinzipien. Insofern freut es mich, dass es nun ein Buch gibt, dass sich mit dieser Thematik befasst. Der Ansatz von "Fußball mit Prinzip" geht auch schon in die richtige Richtung, aber wie leider fast immer bei DFB-naher Literatur ist der Theorieteil gut, nur um dann im Praxisteil wieder in alte Muster zurückzufallen, die der Theorie sogar zum Teil widersprechen.
Im Theorieteil werden sinnvolle Überlegungen präsentiert: Situationen im Fußball sind zu komplex, um jede vermeintlich korrekte Handlung des Einzelnen und/oder der Mannschaft durchexerzieren zu können. Also anstatt feste Abläufe einzustudieren, sollten Prinzipien genutzt werden, anhand derer sich alle gemeinsam orientieren können. So weit, so richtig. Leider ist die Antwort darauf im Praxisteil zunächst wieder eine gegnerlose Trockenübung, in der den Spielern schon von vorne herein die Möglichkeit genommen wird, Prinzipien zu erlernen. Denn wer ohne Gegnerdruck gesagt und gezeigt bekommt, warum er sich wann in welche Räume zu bewegen hat, erlernt keine Prinzipien, sondern wird mit lauter expliziten Wenn-Dann-Regeln konfrontiert, denen er zu folgen hat. Mit anderen Worten: Abläufe. Diese Regeln und Abläufe sind ja nicht falsch, haben aber nichts bei Prinzipien zu suchen. Im Anschluss an die Trockenübung geht es dann in eine Spielform mit fester Spielrichtung, in der typische Situationen simuliert werden. Auch das ist nicht per se falsch, aber in der Vermittlung von Prinzipien unpassend.
Prinzipien sind Grundsätze, die jemand seinem Handeln und Verhalten zugrunde legt. Sie basieren auf einer bestimmten Idee der spezifischen Aufgabenbewältigung. Im fußballerischen Kontext sind Prinzipien Hilfsmittel, um einem zuvor festgelegten Spielstil inhaltliche Orientierungshilfen zu geben, wie sich grundsätzlich in bestimmten Situationen verhalten werden soll. Weil jede Situation im Fußball einzigartig ist, müssen Prinzipien eine gewisse Allgemeingültigkeit haben, die auch verschiedenen Situationskonstellationen Stand hält. Demgegenüber stehen Abläufe, welche keine Grundsätze sind, sondern klare Handlungsanweisungen. Aufgrund ihrer Klarheit zielen sie zwingend auf ganz präzise Situationen ab. Da Abläufe so gut wie nie eins zu eins umzusetzen sind, weil sich jeder Gegner anders verhält, müssen Abläufe auf Prinzipien basieren, um den Spielern Orientierungspunkte zu geben, sich situativ anzupassen.
Um Prinzipien zu vermitteln werden im vorliegenden Buch Spielformen gewählt, in denen stets die gleiche Ausgangssituation gilt und jeder Spieler eine feste Position einnimmt. Dabei sind die Vorgaben jedoch derart eng, dass es sich bei den Lösungen nicht mehr um Prinzipien sondern schon um Abläufe handelt. Positionsspielformen bieten zur Prinzipienvermittlung die passendere Umgebung. Das sind Spielformen in denen die ballbesitzende Mannschaft in Überzahl ist und grundsätzlich auf Ballhalten spielt, wobei es keine feste Spielrichtung gibt. In solchen Spielformen geht es darum, dass die Spieler eine gemeinsame Staffelung erzeugen, die es ihnen ermöglicht, die eigene numerische Überzahl derart zu gestalten, dass der zahlenmäßig unterlegene Gegner keine Chance auf eine Balleroberung hat. Damit das nicht in einem heillosen Durcheinander endet, müssen gemeinsame Grundsätze gelten. Weil es keine feste Spielrichtung gibt, kann sich das Spielgeschehen in jede Richtung entwickeln, was die Situationsvielfalt enorm erhöht. Dabei festen Abläufen zu folgen, ist also nicht praktikabel. Es müssen Prinzipien her.
Durch den regelmäßig engen Raum hat der Ballführer in Positionsspielformen selten Zeit, mit Ball am Fuß aufzudrehen. Denn oft naht im Rücken schon ein Gegenspieler. Außerdem kostet das Aufdrehen Zeit, die man in engen Räumen oft nicht hat. Daher lauten hier zwei mögliche Prinzipien: kein Aufdrehen ohne Schulterblick und/oder nur in Räume passen, die man sieht. Das führt automatisch zu einem schnellen Passspiel, was es dem Gegner erschwert, Zugriff zu erzeugen. Das Prinzip, sich in Schnittstellen auf Lücke anzubieten, wobei man zu den nahen Verteidigern den gleichen Abstand einnimmt, ist in solchen Positionsspielformen ebenfalls unerlässlich. Warum man das aber zuvor ohne Gegnerdruck machen Muss, erschließt sich mir nicht.
Positionsspielformen dienen dazu, dass den Spielern zunächst Gelegenheit gegeben wird, sich mit einer Aufgabe selbständig (allein oder als Gruppe) auseinanderzusetzen. Aufgrund der endlosen Situationsvielfalt muss das im Anfangsstadium zwingend implizit ablaufen, da man ansonsten die Spieler überfrachtet. Erst bei gravierenden Problemen oder ausreichender Erfahrung der Spieler machen explizite Hilfestellungen in Form von Coaching Sinn. In den im Buch gezeigten Spielformen wird aber bereits von vorne herein durch den eindeutigen Übungsaufbau quasi vorgegeben, wie sich je nach Situation verhalten wird und worauf zu achten ist. Was daran implizit sein soll, wie es der Autor beschreibt, erschließt sich mir abermals nicht.
Wenn-Dann-Regeln und klare Abläufe sind keineswegs falsche Ansätze. Aber sie sollten erst dann Einzug in die Trainingspraxis halten, wenn Prinzipien bereits implementiert sind. Denn Abläufe müssen auf Prinzipien basieren. Wer Abläufe ohne Prinzipien vermittelt, braucht sich nicht wundern, wenn seine Mannschaft am Wochenende nicht das macht, was unter der Woche trainiert worden ist. Den Spielern fehlen schlicht Grundsätze, mittels derer sie gemeinsam Situationen zuverlässig lösen können. Im vorliegenden Buch werden Prinzipien und deren Sinnhaftigkeit durchaus korrekt beschrieben, allerdings im Praxisteil wie Abläufe behandelt, wobei es sich zudem um Standardspielformen des DFB handelt. Also wieder mal alter Wein in neuen Schläuchen.