Du hast aber jetzt den Hang, diese körperliche Bedingtheit auszublenden, wenn du diese nur als Ausrede siehst. So kommt es mir zumindest vor. Klar, sein Verhalten kann man ändern und dadurch auch sehr viel an seiner körperlichen Verfassung. Aber ist es im Extremfall, bei 70%, denn nicht legitim, ein wenig zu meckern ob dieser 'Ungerechtigkeit'? Das ist doch nur menschlich.
Deshalb finde ich in dem Sinne den Artikel auch nicht schlecht. Die entscheidende Information ist in diesem Artikel eben, dass das eigene Verhalten teilweise und manchmal sogar sehr extrem weniger Einfluss hat. Das ist die Sachinformation, während du die Appellebene hineininterpretierst. Es sollte also ganz einfach diese Sachinformation im Vordergrund stehen und die suggeriert mMn nicht, dass man nichts an seinem Körper ändern könnte. Das wäre auch sachlich falsch und nicht förderlich für Menschen die abnehmen wollen. Genauso falsch wäre es aber, die körperliche Bedingtheit zu sehr auszublenden, denn dann kommt man sehr schnell zu dieser Stigmatisierung von dickeren Menschen, dass sie faul (und dumm) seien. Das finde ich mindestens ebenso problematisch und diese wissenschaftlichen Tatsachen als Ausreden zu bezeichnen, ist wie ich finde schon bedenklich.
Letztlich soll jeder selber entscheiden, wie er sich wohlfühlt und die Gesellschaft hat kein Recht durch Stigmatisierung diese Menschen dazu zu bringen, einem gesellschaftlichen Idealbild zu entsprechen.
In diesem Thread war es zuletzt ja andersrum, dass dünne Menschen im Fokus standen. Da stimme ich Milky Way zu, wenn diese Kinder fit sind, spricht nichts für eine wie auch immer aussehende Intervention. Ich finde es aber auch nicht schlecht, wie der Threadersteller ein Auge auf das Problem zu haben. Denn wir hatten im Verein jetzt einen Fall, in dem ein Mädchen an einer Magersucht litt und deshalb auch professionell behandelt wurde. Das ist ein sensibles Thema und mit Eltern und Betroffenen zu reden ist da der richtige Schritt.
Zum Thema Ernährungspyramide, die tobn ansprach, habe ich auch vor kurzem einen interessanten Artikel in der Sueddeutschen gesehen, in dem es darum ging, wie unterschiedlich allein die Ernährungspyramiden in den verschiedensten Ländern aussehen. Ein klarer Hinweis darauf, dass das Thema komplex ist und es nicht die beste Ernährungsweise gibt, wenn sich die Experten schon nicht einig sind. Weiteres Beispiel: die Deutsche Gesellschaft für Ernährung steht der veganen Ernährung bei Kindern kritisch gegenüber, während das amerikanische Pendent diese uneingeschränkt für jede Altersgruppe und auch Schwangere als, wenn richtig gemacht, unproblematisch einstuft. Da hat sich unser Minister für Ernährung und Landwirtschaft mit seinen Aussagen in der BILD (?) auch für weitere sachliche Diskurse disqualifiziert.
Den Taz-Artikel kannte ich auch schon, beschäftige mich wie gesagt gerade sehr viel mit dem Thema. Auch der hat einige vernünftige Punkte, ist aber in seinen Grundaussagen wiederum für Übergewichtige problematisch, weil auch er verhindert, dass man als Übergewichtiger selbst Verantwortung übernimmt. Dabei blende ich körperliche Unterschiede nicht aus, wie schon mal ausgeführt, ich halte es nur für überhaupt nicht sinnvoll, sich daran so festzuhalten. Man hat für alles mögliche unterschiedliche Voraussetzungen, die sich in einer Mischung aus Genen und Sozialisation ergeben. Nur ist man dann irgendwann ein erwachsener Mensch und dann kann man sich entweder in die Ecke setzen und heulen, weil die 70% Voraussetzungen so gemein zu einem sind, oder man kann sehen, dass die 30% einem eine Menge Spielraum lassen und was tun. Wenn man das denn will.
Das ist der Punkt, an dem der Artikel eine richtige Sache anspricht: es ist halt nicht die Aufgabe von anderen, zu beurteilen, ob jemand fett sein darf oder nicht. Wenn jemand Übergewicht hat und sich damit wohlfühlt, seine Sache. Wenn jemand Übergewicht hat und sich nicht wohlfühlt aber trotzdem nichts dagegen macht, seine Sache. Aber wenn in dem Artikel gesagt wird, dass Forscher nicht wissen, wie man abnimmt und das alles so komplex ist, dann ist das Bullshit. Richtig sicherlich aus wissenschaftlicher Perspektive, dass die ganzen Prozesse und Ursachen nicht klar sind. Das ändert aber immer noch nichts daran, dass man abnimmt, indem man mehr Energie verbraucht als man aufnimmt. Das wird sich auch mit fortschreitender Forschung nicht ändern. Und das bedeutet auch zunächst mal: man kann abnehmen. Es ist dann immer noch schwer genug, weil man das richtige Verhältnis aus Nahrungsaufnahme und körperlicher Betätigung, das für einen passt, finden muss und weil vielleicht Essen noch andere Funktionen einnimmt als die pure Nahrungsaufnahme, weil das Umfeld es einem erschwert und so weiter. Es ist aber halt nicht so, dass "die Gene" oder so es unmöglich machen, weil es einen Set Point oder ähnliches gibt. Wenn Übergewicht tatsächlich zentral von den Genen abhängen würde, wie erklärt sich dann der rasante Anstieg an Übergewichtigen in den letzten Jahrzehnten?
"Sie müssten ja nur ein wenig Maß halten am Mittagstisch, öfter mal radeln oder joggen". Genau das ist, wenn auch vereinfacht formuliert, richtig. Es ist nicht Aufgabe der Gesellschaft, das Einzelnen vorzuhalten, aber es ist schon ganz gut das im Dschungel von Wunderdiäten, absurden Ernährungsempfehlungen und fragwürdigen, dafür weitgehend rezipierten Studien ("Übergewicht ist eigentlich gesund") zu wissen. Wie wirkungsvoll die taz dabei einem Stigma entgegenwirkt, indem sie den Artikel mit einem fetten Mann illustriert, der vor Fast Food und Colaflaschen sitzt, sei mal dahingestellt. Im Übrigen dürften, um mal wieder auf das Originalthema zu sprechen zu kommen, Untergewichtige zumindest direkten Kommentaren zu ihrem Gewicht eher ausgesetzt sein, als Übergewichtige.